Schutzkonzept: Grenzüberschreitungen im Sport

Schutzkonzept: Grenzüberschreitungen im Sport

09.10.2021

„Das Thema muss einfach noch mehr in die Köpfe“

Neuhof. „Das hat mich schon sehr stolz gemacht“, denkt Vereinsmitglied Franziska Kloth an den Moment in der Jahreshauptversammlung des SV Blau-Weiß Neuhof Ende September zurück, als ihr Antrag auf ein vereinseigenes „Schutzkonzept gegen Grenzüberschreitungen im Sport“ einstimmig vom Plenum angenommen worden war und damit zugleich Grünes Licht zur Erarbeitung eines Handlungsleitfadens dieses ebenso sensiblen wie hochaktuellen Themas gegeben wurde.

Eine „Broschüre mit dem groben Rahmen“ liegt laut der 28-jährigen Erziehungswissenschaftlerin mit traumapädagogischer Zusatzqualifikation bereits vor und so präsentiert sie ein Heftchen in DIN-A-5-Format. „Das Ganze“, so Franzi, „muss jetzt nur noch verfeinert werden. Jetzt kommt der Feinschliff.“ Dafür will sie sich, „ganz gerne noch vor Weihnachten“, mit allen Trainern, Betreuern und maßgeblichen Funktionsträgern aus allen Abteilungen zusammensetzen, um einen Verhaltenskodex gegen Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt im Sport festzuschreiben, Präventions- und Interventionsschritte zu diskutieren und darin auch Kooperationspartner und Anlaufstellen für Betroffene aufzuzeigen.

Exzellente Masterarbeit zum brisanten Thema

Nach Überzeugung von Franzi Kloth ist das Thema „immer noch nicht ganz im Sport angekommen. Wir müssen das Thema „Sexualisierte Gewalt im Sport“ einfach noch mehr in die Köpfe kriegen.“ Die 28-Jährige, die sich bereits in ihrem Bachelor-Studium „Kindheitspädagogik“ an der Uni Hildesheim intensiv mit der Thematik beschäftigte und mit ihrer noch ganz „frischen“ und mit der Note 1,5 bewerteten Masterarbeit unter dem Titel „Gegen sexualisierte Gewalt und Grenzüberschreitungen an Kindern und Jugendlichen im Sport“ nicht nur Papa Uwe („Tati“) beeindruckte, spricht von einer „sicherlich sehr hohen Dunkelziffer“.

Franzi: „Wir müssen uns von dem Irrglauben befreien, in unserem eigenen Verein kann so etwas nicht passieren.“ Die Annahme „So etwas gibt es doch bei uns nicht“ kann laut der Erziehungswissenschaftlerin „das Risiko erhöhen, dass Übergriffe stattfinden“. Neben der Kultur der Achtsamkeit ist nach Überzeugung der engagierten jungen Frau auch ein „konkretes Regelwerk erforderlich, das ein klares Statement setzt und potenzielle Täter abzuschrecken vermag“.

„Sexualisierte Gewalt ist Machtmissbrauch“

Gerade die Körperlichkeit und Nähe im Sport – sei es beim Training, Hilfestellungen, Duschen, Umkleiden oder auch gemeinsamen Trainingslagern - schaffe Räume für mögliche Übergriffe. Franzi: „Sexualisierte Gewalt ist Machtmissbrauch!“ Die Autoritätsposition des möglichen Täters und das bestehende Abhängigkeitsverhältnis des potenziellen Opfers öffneten die Tore für Grenzüberschreitungen. Schamgefühle und die damit verbundene Scheu, sich im Fall eines Übergriffs einer Vertrauensperson zu offenbaren, erschwerten eine Aufklärung und Intervention. „Nach der aktuellen Forschung sind es nur rund 10 Prozent der männlichen Personen, die in derartigen Fällen den Schritt machen.“ Franzi Kloth macht dafür insbesondere ein verklärtes „Männlichkeitsbild und Männlichkeitskultur“ verantwortlich.

„Das Schutzkonzept kann ein Qualitätsmerkmal für unseren Verein sein“

Wie ist es mit Schutzkonzepten und Handlungsleitfäden bei anderen Fußballvereinen im Kreis bestellt? „Nach meiner Recherche gibt es in keinem Verein kreisweit ein diesbezügliches Regelwerk.“ Franzi: „Ein fertiges Schutzkonzept sehe ich sehr wohl auch als ein Qualitätsmerkmal für unseren Verein. Wir könnten damit einen Anstoß geben, eine gewisse Vorbildrolle ausüben.“

Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland nach Überzeugung der Erziehungswissenschaftlerin bei der Erstellung derartiger Konzepte und Regelwerke „noch stark hinterher“. Die USA setze in dieser Hinsicht Maßstäbe. Auch wenn der Deutsche Olympische Sportbund schon 2010 einen Aufruf zu einem Schutzkonzept im Sport gestartet habe, ein Jahr später beim Niedersächsischen  Fußballverband eine Arbeitsgruppe „Sexualisierte Gewalt“ ins Leben gerufen worden sei und aktuell auch ein Ratgeber für Mädchen und Jungen über die NFV-Website als pdf-Datei ausgedruckt werden könne, ferner der Deutsche Fußballbund eine Broschüre „Kinderschutz im Verein“ aufgelegt habe – insgesamt ist nach Auffassung der 28-Jährigen „in der Zwischenzeit insbesondere von Seiten der Vereine noch zu wenig passiert“.

Franzis Fazit: „Wir müssen die negative Konnotation aufbrechen und dürfen keine Angst vor einer Auseinandersetzung mit dieser Thematik haben.“

 

Hintergrund

Definition: Von „Sexualisierter Gewalt“ spricht man bei Handlungen mit sexuellem Ansatz, aber auch bereits bei Gesten und Worten mit sexualisiertem Bezug ohne Einwilligung beziehungsweise Einwilligungsfähigkeit der Betroffenen. Die Schwelle zur Strafbarkeit im juristischen Sinn muss dabei nicht überschritten werden. Gemeinsam ist allen diesen Fällen, dass eine sprachliche, geistige und körperliche Unterlegenheit besteht und der Täter dabei seine Macht- und Autoritätsposition ausnutzt, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. 

Folgen Sexualisierter Gewalt: Die Opfer werden aufgrund des Erlebten in ihrer Entwicklung gegebenenfalls nachhaltig gestört beziehungsweise traumatisiert (Vertrauensverlust).

Zahlen: Rund 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Deutschland sind in über 25000 Fußballvereinen aktiv. Sexualisierte Gewalt findet in 58 Prozent der Fälle durch männliche Personen und zu 42 Prozent durch Frauen statt – so Franzi Kloths neueste wissenschaftliche Erkenntnisse.

Ziele: Eine „Kultur der Achtsamkeit und des Hinsehens“ in den Vereinen entwickeln. Deutlich machen, dass Grenzüberschreitungen jeglicher Art nicht toleriert werden und Kinder und Jugendliche gleichsam animieren, auf ihre „innere Stimme zu hören“ und für sich zu prüfen, ob das fremde Verhalten noch akzeptabel und tolerierbar ist.

Information/Hife: www.safesport.dosb.de       

                                www.dsj.de/kinderschutz     

                                www.beauftragter-missbrauch.de

                                www.nfv.de (Broschüre zu Sexualisierter Gewalt)     

                                www.dfb.de (Broschüre "Kinderschutz im Verein")

                                www.hilfetelefon-missbrauch.de (0800 22 55 530)

                            

                                               

                                                                                                                                       Torsten Becker

 

Titelfoto: Franzi Kloth mit ihrem Entwurf eines Schutzkonzepts gegen Grenzüberschreitungen im Sport.

Bildergalerie: Fotos Torsten Becker – darunter die mit zwei Schwestern in Neuhof aufgewachsene Franzi Kloth bei der engagierten Vorstellung ihres Konzepts im Rahmen der Jahreshauptversammlung im Klubhaus.

 

Der Kommentar

Bemerkenswert, wieviel Herzblut, Leidenschaft und Überzeugung Franzi, die „Ältere“ der Kloth-Zwillinge Franziska und Elisabeth (letztere ist Schriftführerin bei den Blau-Weißen), nicht nur in ihre Premium-Masterarbeit gesteckt hat, sondern auch bei der Erarbeitung eines vereinseigenen „Schutzkonzepts gegen Grenzüberschreitungen im Sport“ an den Tag legt. All die Schlüsselpersonen, die sie dafür in den nächsten Wochen mit ins Boot holen wird, sollten sich ihrer Verantwortung, Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu bewahren, sehr wohl bewusst sein und mit Franzi einen praxisnahen Handlungsleitfaden unter den Gesichtspunkten der Prävention, Intervention und Selbstverpflichtung ausarbeiten. Sie geben damit zugleich ein deutliches Signal nach außen, dass sich die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen bei den „Kirschen“ am Klingenberg wohl und sicher fühlen können. Schließen möchte ich, der seit rund fünf Monaten nach seiner Rückkehr aus der Fremde diesem, seinem Jugend-Verein voller Stolz wieder angehört, mit einem Satz des „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ bei der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig: „Der gelebte Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt ist ein Qualitätsmerkmal für jeden Verein.“

 

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